Der lange Weg nach oben

Von der Eintracht Immenbeck zum HSV

HAMBURG. Bis vor wenigen Jahren hat Nicklas Lund bei seinem „Herzensverein“ Eintracht Immenbeck gespielt. Dann klopften größere Vereine an, die dem Defensiv-Talent eine Perspektive bieten konnten. Zuerst der FC St. Pauli, in diesem Sommer der Hamburger SV. Doch der Weg ist noch weit.

Er verbringt seine Freizeit gerne an der Spielekonsole, zieht mit Freunden durch Hamburg, steht auf weiße Sneaker mit hohen Absätzen und bezeichnet sich nicht unbedingt als den eifrigsten Schüler. So gesehen hat Nicklas Lund, 16, viel gemein mit anderen Teenagern in seinem Alter. Er sagt aber auch Sätze, die so klingen:

„Es ist wichtig, einen Berater zu haben, der auch in schwierigen Phasen an einen glaubt.“

„Ich ärgere mich, wenn ich meine Leistung nicht bringe.“

„Ich höre immer in meinen Körper hinein, ob alles in Ordnung ist.“

„Wenn sich meine Freunde treffen, habe ich meistens Training oder muss lernen.“

Nicklas Lund führt ein Leben, in dem alles einem großen Ziel untergeordnet wird. Er will Fußballprofi werden.

An einem grauen Donnerstagmorgen öffnet Lund die Haustür. Im Flur steht ein 1,83 Meter großer Junge mit blonden Haaren, athletischem Körperbau und einem Flaum auf der Oberlippe. Er hat noch die Zahnbürste im Mund. „Wir haben ein bisschen Zeitdruck“, nuschelt er und verschwindet im Badezimmer. Gleich beginnt das Training der U 17 am Volksparkstadion. Lund hat im Sommer den FC St. Pauli verlassen und beim HSV einen Vertrag bis 2021 unterschrieben. Der Hamburger Boulevard titelte, der HSV schnappe dem Kiezclub ein „Top-Talent“ weg.

„Herzensclub“ TSV Eintracht Immenbeck

Lund, Sohn einer Dänin und eines Deutschen, ist in Buxtehude geboren und aufgewachsen. Unweit seines Elternhauses, beim TSV Eintracht Immenbeck auf der Brune Naht, lernte er das Fußballspielen. 2015 verließ er seinen „Herzensclub“ und wechselte zum FC St. Pauli. In diesem Jahr stand der Tapetenwechsel an.

Lund spaziert über die von Laub bedeckten Fußwege, die sich durch den Altonaer Volkspark schlängeln. Mitspieler werden mit lässigem Handschlag begrüßt, dann taucht vor ihnen der HSV-Campus auf, offiziell Alexander-Otto-Akademie. Ein imposantes Gebäude, umringt von sattgrünen Fußballplätzen, die Fassade in den Vereinsfarben blau, weiß, schwarz gehalten. Lund verschwindet im Inneren. Hier, so die Hoffnung, trainiert die Zukunft des HSV.

Die Clubs der ersten und zweiten Liga stecken viel Geld in die Ausbildung junger Spieler wie Nicklas Lund. Scouts schauen sich überall Spiele an, damit ihnen kein Talent entgeht. Einige von ihnen sind erst 13 Jahre alt; einige bekommen schon Gehalt. Gefördert werden sie in Nachwuchsleistungszentren. In der Saison 2016/17 hatten die 36 Erst- und Zweitligavereine in Deutschland mehr als 160 Millionen Euro in den Nachwuchs investiert; rund zehn Jahre zuvor waren es nur 70 Millionen gewesen. Und das soll sich einmal auszahlen.

Pit Reimers, der U 17-Trainer, fläzt sich in einen Sessel in der Mensa des HSV-Campus. Er zeichnet mit den Fingern einen Flaschenhals in die Luft, will damit veranschaulichen, wie lang der Weg aus dem Jugendbereich in den Profifußball ist. Der HSV hat von der U 11 bis zur U 17 Mannschaften für jeden Jahrgang, dann aber folgt gleich die U 19, anschließend die U 21, zwei große Sprünge. „Unser Ziel ist eine hohe Übernahmequote“, sagt Reimers. Das ist der Anspruch. Wer selbst ausbildet, spart viel Geld – und könnte sogar die Ablösesumme kassieren, wenn es der Spieler in den Profifußball schafft.

Sechs Trainingseinheiten absolviert das HSV-Talent jede Woche.

Die Realität sieht anders aus. Vielen Spielern bleibt der Sprung nach oben verwehrt, die Fiete Arps und Jonathan Tahs sind nur Ausnahmen. Das weiß auch Nicklas Lund. Er gesteht zwar, sich manchmal auszumalen, wie es wäre, Profi zu sein mit immensem Gehalt und coolem Auto. Er sagt aber auch: „Einer aus unserem Jahrgang wird vielleicht Profi.“ Der Weg ist weit, der Druck groß.

Das Volksparkstadion erhebt sich wie ein Sinnbild über dem Kunstrasenplatz. Im Nieselregen dribbeln Lund, der Defensivallrounder, und seine Mitspieler um Slalomstangen, arbeiten an ihrer Ballbehandlung bei Passübungen in einem abgesteckten Viereck. Verliert Lund, kurze Hose, pinkfarbenes Leibchen und türkise Schuhe, den Ball, stöhnt er, einmal haut er in die Luft, brüllt: „Maaaann!“

Lund war ein Wunschspieler. „Wir verfolgen Nicklas’ Entwicklung seit der U 11“, sagt Trainer Reimers. „Wir brauchten ihn für die Innenverteidigung.“ Lund gilt als Prototyp eines Innenverteidigers, der auf dem Platz gerne Verantwortung übernimmt, die Abwehr organisieren kann, kopfballstark ist und eine ruhige Ausstrahlung hat. „Ein ehrgeiziger Junge“, sagt Reimers. In der B-Junioren-Bundesliga stehen Lund und der HSV im Mittelfeld der Tabelle.

Nach anderthalb Stunden ist die Einheit vorbei, eine von sechs in dieser Woche. Lund duscht, vertilgt einen Teller Putengeschnetzeltes in der Campus-Mensa und macht sich auf den Heimweg. Er lebt nur wenige Minuten mit dem Rad entfernt in einer ruhigen Ecke in Stellingen. Hohe Hecken, Mehrfamilienhäuser mit Gärten, wenige Autos am Straßenrand. Lund öffnet die rostige Pforte zu einem Haus mit weißer Fassade.

Gastvater Martin Homann.

Hier ist Lund nach seinem Wechsel eingezogen, bei Martin und Maike Homann, seiner „Gastfamilie“. Sie hätten sich zunächst beim FC St. Pauli als Gastfamilie beworben, erzählt Martin Homann, 51, Berufsschullehrer und seit 25 Jahren Dauerkarten-Inhaber beim Kiezclub. Doch es kam keine Antwort. Sie bewarben sich also beim HSV und erfüllten alle Voraussetzungen: Sie leben in Arena-Nähe, sind fußballbegeistert und erziehungserfahren, er hat eine pädagogische Ausbildung. Das Jugendamt stellte der Familie eine Pflegeerlaubnis aus. Jetzt leben hier die Homanns mit ihren beiden Söhnen und zwei HSV-Talenten. „Für uns ist das ein Zugewinn“, sagt Homann. Lehmann, der Familienhund, bellt.

Lund steigt die 14 Treppenstufen zu seinem Zimmer hinab. Auf 16 Quadratmetern hat er alles, was er braucht: Schreibtisch, Bett, Kleiderschrank – „die Ikea-Grundausstattung“, witzelt er. Eine Wand hat er mit einer Tapete in Mauer-Optik beklebt. Ein Regal mit seiner Sneaker-Sammlung steht neben dem Kleiderschrank. Durch ein schmales Fenster kann er in den Garten blicken. Lund erzählt, dass er sich bei der Gastfamilie wohlfühle, dass das Essen schmecke.

Nicklas Lund in seinem Zimmer.

Warum hat der 16-Jährige sein vertrautes Umfeld verlassen? Ganz einfach: Lund hatte die „Fahrerei“ satt, wie er sagt. Als er noch beim FC St. Pauli spielte, pendelte er täglich nach Hamburg, und das drei Jahre lang.

Lunds Leben hat sich innerhalb kurzer Zeit komplett verändert. Er hat die Schule gewechselt. Er hat seit einem Jahr einen Berater. Er kassiert ein Taschengeld fürs Fußballspielen. Er sucht Rat bei den Sportpsychologen des HSV. Er sagt Geburtstage oder wie im Sommer einen bereits gebuchten Urlaub mit Freunden in Spanien ab, um sein großes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Kurzum: Lunds Leben ist auf Fußball ausgerichtet.

„Ich finde seine Einstellung gut“, sagt Vater Stefan Mahler, „er investiert so viel in den Fußball.“ Sein Sohn sei total zielorientiert, gleichzeitig bescheiden und realistisch geblieben. „Nicklas ist keine 16 mehr“, sagt Mahler, „sondern schon älter.“ Älter im Sinne von reifer. Seine Frau und er sind allerdings froh, dass er sich für den HSV entschieden habe. Es hätte noch zwei weitere Angebote gegeben, eines aus dem Norden, eines aus dem Westen.

Einer der jüngsten Spieler in der U 19 des HSV

Lund zückt sein Smartphone. „Hier“, sagt er und zeigt eine Art Erinnerungsstück, das Foto einer Liste, in der sein Name auftaucht. Lund wurde vor einem Jahr für einen Lehrgang der dänischen U 16-Nationalmannschaft nominiert, als einziger im Ausland lebender Däne unter 30 Spielern. Er soll einen guten Eindruck hinterlassen haben. „Ich hoffe, dass ich nochmal eine Chance bekomme, mich dort zu zeigen.“

Was aber, wenn der Traum platzt? Erst einmal, sagt Lund, werde er sich nicht zurücklehnen. Er besitzt beim HSV einen Vertrag über drei Jahre. In der kommenden Saison spiele er in der U 19 des HSV, sei da einer der jüngsten Spieler. Und dann geht Lund noch drei Jahre zur Schule, in die elfte Klasse der Stadtteilschule Bahrenfeld. Das Abitur peilt er 2021 an, genau wie den Sprung in den Herrenbereich.

Klar ist bislang nur, dass er später einmal zur Eintracht zurückkehren möchte, um dort mit seinen Freunden zu kicken. „Immenbeck“, sagt Lund, „ist mein Herzensverein.“

Das sagt der Scout

Benjamin Scherner, HSV-Chefscout Nachwuchs, über…

…den Spieler Nicklas Lund: „Nicklas ist der Typ Führungsspieler. Er hat eine ruhige aber sehr präsente Ausstrahlung, coacht und übernimmt Verantwortung. Als sehr intelligenter Innenverteidiger mit einer guten Vororientierung ist er zweikampfstark und besitzt einen guten Spielaufbau.“

…den Wechsel: „Nicklas hat bis zum Sommer beim FC St. Pauli gespielt, gehört zu den besten Innenverteidigern der Stadt und des Hamburger Umlandes. Wir haben daher alles daran gesetzt, ihn zu verpflichten.“

…die Pläne mit ihm: „Jetzt wollen wir sowohl sein Stand-, als auch sein Spielbein weiterentwickeln. Das heißt, dass wir ihn menschlich und schulisch sowie natürlich fußballerisch fordern und fördern werden.“

Quelle: Tageblatt – Timo Scholz

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